A.V. Hartmann: Reflexive Politik im sozialen Raum

Cover
Titel
Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841


Autor(en)
Hartmann, Anja Victorine
Reihe
Veröff. d. Instituts für Europäische Geschichte Mainz 200; Historische Beiträge zur Elitenforschung 3
Erschienen
Mainz 2003: Philipp von Zabern Verlag
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
André Holenstein, Historisches Institut der Universität Bern

Diese Mainzer Habilitationsschrift untersucht «reflexive Politik im sozialen Raum» und stellt damit die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen den Veränderungen der Regeln von Politik einerseits und den sozialen Räumen andererseits, aus denen sich die Akteure des politischen Feldes rekrutierten. Die äusserst konfliktträchtige Geschichte Genfs zwischen 1760 und 1841 liefert dafür den Untersuchungsgegenstand. Die krisenhaften letzten Jahrzehnte der alten patrizischen Republik, in denen es 1782 bereits zu einer ersten Mikro-Revolution (J.-D. Candaux) und zum kurzzeitigen Sturz des patrizischen Regiments kam, die unter Einfluss der «grossen» Revolution in Frankreich stehende Genfer Umwälzung von 1792 und deren Radikalisierung zur Genfer Terreur 1794, der Anschluss Genfs als Präfektursitz an Frankreich von 1798 bis 1813/14, die Restauration und Eingliederung als souveräner Kanton in die Eidgenossenschaft und schliesslich die Machtübernahme durch die Liberalen 1841 geben einen hervorragenden politik- und verfassungsgeschichtlichen Rahmen für die Analyse dieser Fragestellung ab. Die «Sattelzeit» wird hier als Epoche des Übergangs von «Regierungspolitik» zu «Volkspolitik» in den Blick genommen, welche eine neue Qualität des Politischen mit sich gebracht habe. Im Laufe dieses Übergangs machten die politischen Eliten die neuartige Erfahrung, dass sich die Institution des souveränen Staates nur noch bewahren liess, indem – anders als im Ancien Régime – Veränderungen nicht mehr verhindert, sondern bewusst angestrebt wurden.

Ausgehend von einer beeindruckend kohärenten, komplexen analytischen Konzeption schreitet die Verfasserin in ihrer Darstellung den Zeitraum zwischen 1760 und 1841 insgesamt dreimal ab und untersucht ihn im Hinblick auf die Veränderungen des politischen Felds, des sozialen Raums und der Lebenswelten, innerhalb welcher die Angehörigen der politischen Funktionseliten jeweils agierten. Teil I schildert die bewegte politische Geschichte Genfs zwischen 1760 und 1841 und befragt sie auf den Wechsel zwischen Phasen reflexiver Politik und Phasen einfacher Politik. Die politische Geschichte Genfs eignet sich dafür hervorragend, ist sie doch wie kaum eine andere Geschichte eines politischen Gemeinwesens in diesem Zeitraum von einer dichten Abfolge politischer Unruhen und Erschütterungen geprägt gewesen, welche mehrere abrupte Systemwechsel zwischen – mit Ulrich Beck zu sprechen – einfacher, d.h. regelgeleiteter, und reflexiver, d.h. regelverändernder, Politik, mit sich gebracht haben. Teil II ist sodann als Analyse der Sozialstruktur der politischen Eliten angelegt und betrachtet – wiederum für die sehr unterschiedlichen politischen Herrschaftssysteme Genfs in den Jahrzehnten zwischen 1760 und 1841 – die Verortung der Angehörigen der politischen Eliten im sozialen Raum. Sie tut dies auf der Basis einer prosopo - graphischen Datenerhebung sowie anhand der drei sozialen Merkmale des Alters bzw. der Generationenzusammenhänge, der Familien- und Verwandtschaftsnetzwerke sowie der sozioökonomischen Lage. Teil III schliesslich ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientiert und fragt – auf der Basis von Nachlassinventaren und Selbstzeugnissen hauptsächlich von Angehörigen der «guten» Genfer
Gesellschaft – nach den «Lebensstilräumen» und «Erfahrungsräumen» der politischen Akteure, mithin nach den Modi, die innerhalb der verschiedenen sozialen Kreise zu Bindungen führten, welche in Form von kommunikativer Macht im politischen Feld wirksam werden konnten. In diesem Teil legt die Verfasserin u.a. ihre Beobachtungen zur Wohnsituation, zur Kleidung und zum Buchbesitz der politischen Eliten vor.

Die Explikation der Fragestellung macht klar, dass die Studie weit mehr ist als eine Fallstudie zur Genfer Geschichte im Übergang vom späten Ancien Régime zur frühen Moderne. Vielmehr gibt Genf ein ideales «Labor» für die Umsetzung dieses systematisch angelegten Forschungsprogramms her. Wie sich politische Eliten in der «Sattelzeit» und unter dem Eindruck des beschleunigten Wechsels der politischen Systeme konstituierten und reproduzierten, wie sie auf die Infragestellung ihrer Position im politischen Feld reagierten, welchen sozioökonomischen Voraussetzungen sie ihre elitäre Position verdankten bzw. welche Faktoren den konkurrierenden Akteuren im politischen Feld aussichtsreiche Perspektiven verschafften, wie sich Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten lassen sich am Fallbeispiel Genf mit seiner äusserst bewegten politischen Geschichte hervorragend studieren. Unter den zahlreichen bemerkenswerten Ergebnissen der Studie, die sich im Rahmen dieser Besprechung auch nicht annäherungsweise ausbreiten lassen, sei etwa die kritische Infragestellung der gängigen These einer Identität von politischer Elite und sozioökonomischer Elite in den patrizischen Republiken des späten Ancien Régime hervorgehoben, Die Verfasserin betont demgegenüber die Tatsache, dass die Ordnung des politischen Feldes in keiner linearen Abhängigkeit zu den Ordnungen in anderen sozialen Feldern stand und das politische Feld mithin «eine deutliche Autonomie gegenüber allen anderen sozialen Kreisen bewahrte» (S. 409). In geschlechtergeschichtlicher Perspektive sind die Beobachtungen zur Rolle von Frauen bemerkenswert. Dies gilt einerseits für jene Ratsherrentöchter, die durch ihre Heirat als Gattinnen von politischen «Newcomern» ihre Ehemänner in die eigenen Familiennetzwerke einzubinden und damit deren Chancen als politische Akteure zu verbessern vermochten. Dies gilt andererseits für die Tätigkeit von Frauen in der «guten» Genfer Gesellschaft, die als Initiatorinnen und Protagonistinnen der «Sociétés» – geselliger Zirkel – massgeblich für den Zusammenhalt verwandtschaftlicher Verflechtungszusammenhänge und damit für die Konstitutierung eines entscheidenden Faktors sozialer Reputation und politischer Karrierechancen verantwortlich gewesen sind. Die Analyse wird von starken heuristisch-theoretischen Impulsen aus der soziologischen Theorie (U. Beck, N. Luhmann, G. Simmel, P. Bourdieu, Th. Luckmann, A. Schütz, H. Arendt und J. Habermas) angeleitet, deren Potential in einer bemerkenswerten Kombination verschiedener methodischer Ansätze aus der Politik-, Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte und in der glänzenden Meisterung einer äusserst heterogenen, reichen Quellenlage fruchtbar gemacht wird. Allenfalls wäre als Desiderat kritisch zu vermerken, dass die Verfasserin bei der Darstellung des politischen Felds und der Phasen regelverändernder Politik dem kontroversen politisch-ideologischen Diskurs zwischen den im Meinungsstreit liegenden Parteiungen mehr Beachtung hätte schenken dürfen. Die bewegende Macht der politischen und staatstheoretischen Ideen, welche sich in der Rousseau- Stadt Genf in einer erstaunlich dichten Produktion von Pamphleten und Memorialen manifestierte, gerät in dieser Studie als eigenständige Grösse kaum in den Blick. Der Arbeit ist zu wünschen, dass sie nicht das Opfer der in der internationalen Historikergemeinschaft bisweilen anzutreffenden, irrigen Auffassung werde, der Blick auf eine kleine Republik im schweizerischen Raum mache es von vornherein unmöglich, die grossen Fragen zu stellen und zu untersuchen, die bisweilen als die für die Disziplin allein relevanten angesehen werden.

Zitierweise:
André Holenstein: Rezension zu: Anja Victorine Hartmann: Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 200; Historische Beiträge zur Elitenforschung, Bd. 3). Mainz, Verlag Philipp von Zabern, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 475-481